Beim näheren Hinsehen, wenn ich etwas sozusagen ganz genau mustere, muss ich sagen, dass ich Muster faszinierend finde. Muster, bunte Muster, Wiederholungen, die zusammen in den Blick genommen etwas Neues, etwas Ganzes ergeben. Muster auf Tischdecken, in Mandalas, auf Taschen, Strickpullovern, Kissen; Tigerfell-, Kuhflecken- und Leoparden-Muster, Farbmuster der Natur, Morphologie, Holzmaserungen, Tropfen auf einer regennassen Fensterscheibe, Verhaltensmuster. Ich liebe alle Muster bis auf das letzte, das ich allerhöchstens mag, und das auch nur manchmal. Fast alle Dinge, die mich umgeben, sind mehr oder weniger bunt gemustert und ich ziehe so viel visuelle und haptische Freude daraus. Noch mehr Freude, wenn die Muster sich auch durch Sprache und Sprachen ziehen, wenn man Altbekanntes aus einer Sprache auch in einer anderen wiederfindet. Sprachmuster, Sprachfamilien. Muster als etwas Ordnendes begreifen kann. Das lässt mein Herz höher schlagen, ich bin ganz in meinem Element, es liegt außerhalb von mir und alles ist in bester Ordnung…
…bis ich selbst immer wieder versuche, hinter die Fassade zu schauen und aus meinen alten Mustern auszubrechen. Und auch davon gibt es richtig viele, wie bei jedem Menschen wahrscheinlich. Und sind diese Muster nicht auch das, was in gewisser Weise das Gesamtbild formt? Zumindest an der Oberfläche. Denn meine Muster sind nicht immer das, was bei mir – nach eingehender Musterung – eigentlich darunter liegt oder dahintersteckt.
Muster sind so lange faszinierend, wie ich sie bei anderen bemerke, vielleicht belustigt bin, vielleicht milde darüber lächle oder leicht den Kopf schüttele, so lange gut, wie sie mir helfen, Dinge zu verstehen, Sicherheit zu gewinnen, etwas Vorhersehbarer zu machen. Aber ist das Vorhersehbare an Mustern nicht auch das Fatale? So kann es zumindest in der eigenen Lebensgestaltung sein. Besonders dann, wenn man ein Lieblingsmuster hat oder noch gar keinen demaskierenden und entwaffnenden Blick dafür, dass man in der eigenen Schablone feststeckt, aber es da draußen mindestens noch eine alternative Denk- oder Handlungsoption gäbe. Die Blindheit für das eigene Mustergültige. Den Fleck, der außerhalb der eigenen Sichtweite liegt, in einem verborgenen Winkel, der vermeintlich tot ist – tödlich sein kann?
Aus alten Mustern ausbrechen, vielleicht muss es kein radikaler Ausbruch sein. Zunächst reicht ein Gewahrwerden. Ein „Aha. So ist das also.“ Statt Ausbruch ein Um-Bruch? Der Versuch, um ein Muster herumzukommen? Oder es zu brechen? Dabei sieht es doch ganz hübsch aus, hat seine Berechtigung, seine Routine, seinen festen Platz, seine ganz eigene verkorkste Schönheit. Alte Muster erweitern? Dann wäre es aber notwendig, die Farbe, die Strichstärke, die Richtung zu wechseln. Es soll ja nicht wieder so werden, wie es gerade schon ist. Nicht weiter einsilbig, vorgezeichnet, eingeschränkt, tot, geordnet, langweilig, vorhersehbar, gemustert nur, um das Eigentliche zu tarnen.
In den letzten Monaten lerne ich meine eigenen Muster immer besser kennen. Ich achte besser auf sie, so, als würde ich zum allerersten Mal durch meine Straße laufen, mit wachem Blick und bereit für Entdeckungen. So, wie ich durch die Straßen Portos gelaufen bin und mir jede Fassade mit jedem handbemalten Fliesenmuster ganz genau angeschaut habe. Eine Bestandsaufnahme. Bei manchen meiner Muster muss ich inzwischen lachen. Manche machen mir Bauchschmerzen. Aus manchen will ich ausbrechen. Manche finde ich nützlich und will sie behalten, sie dürfen mich weiter zieren, bis ich sie bald einer neuen Prüfung unterziehe. Manche Muster habe ich stolz hinter mir gelassen. Zum Glück habe ich viele Menschen mit wachem Blick in meinem Umfeld, die ich manchmal gemeinsam mit mir durch meine Straße spazieren lasse. Dann schauen wir uns die Muster auch gemeinsam an. Einige Fliesen haben wir schon zusammen abgeklopft und eingestampft. Bei neuen Mustern anerkennend genickt. Und zusammen wird es auch nie hoffnungslos oder vergeblich.
Um neue Muster zu etablieren, eignet sich auch ein Tapetenwechsel immer ganz hervorragend, oder ein Straßen- und Fassadenwechsel, zu dem ich hier nur eindrücklich ermutigen kann. Neue Fliesen, neue Erkenntnisse, neue Bereicherung, neue Inspiration, neue Wege, die sich auftun. So soll es auch in Porto sein, dieses Frühjahr, bei unserem Retreat für wilde, weise und kreative Frauen und solche, die diese Seiten noch an sich entdecken möchten. Wir wollen genau hinschauen, den Blick und die Sinne für uns selbst schärfen, sie in Worte und Texte kleiden, in Bildern festhalten, experimentieren, träumen, uns von Porto verzücken lassen… Hier findest du alle weiteren Infos zum Retreat, zum Programm, zur Unterkunft, zu unseren Workshops und zu den Extras, denn es wird auch einen Workshop zum Fliesenbemalen geben, mit traditionellen Mustern aus Porto. Wenn das nichts ist. Dabei kann man dann auch gleich die eigenen Muster hinterfragen. Und on top noch die bemalten Fliesen mit nach Hause nehmen, um den Tapetenwechsel perfekt zu machen.
Zum Schluss noch ein zum Text passender, leicht melancholischer, leicht hoffnungsvoller Songtipp, ein portugiesisches Gute-Nacht-Lied über (oder für?) einen Löwen, „O Leãozinho“, adaptiert von der Band Beirut, die jüngst ein neues, altes Album herausgebracht hat. Neu und alt, denn es sind auch viele „Artefakte“ darunter, die dem Album seinen Namen gegeben haben. Eine schöne musikalische Melange, begleitet von Erzählungen und Reflexionen der Band, die einen in diesen grauen Tagen wegtragen in andere Zeiten, Kulturen und an andere Orte, gibt es gerade bei Radio Eins vom 29.01.2022 nachzuhören.
Gute Nacht, ihr Löwen da draußen.
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache