Ich denke, also bin ich. Ich denke weiter, also lerne ich, also werde ich. Ich werde mehr, die Fülle wird größer, die Gedanken nehmen mit dem Alter zu. Ich erfahre, ich beobachte, ich positioniere mich. Diese Woche stand – ganz unüblich zu anderen Wochen meines Lebens (haha) – im Zeichen des Lernens und Verstehens.
Vorgestern habe ich, nicht beabsichtigt und doch genau im rechten Moment zum Holocaust Remembrance Day Yom HaShoah, den Hannah-Arendt-Film geschaut und anschließend das 1-stündige Interview „Zur Person“ mit ihr aus dem Jahr 1964 aufgesogen. Vor etwa einem Jahr habe ich begonnen, mich mit Hannah Arendt zu beschäftigen, habe die Graphic Novel „Die drei Leben der Hannah Arendt“ von Ken Krimstein gelesen und war letzten Herbst in der Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Die Schärfe ihres Verstandes ist faszinierend, ihr beim Denken zuzuschauen und zuzuhören ist eine Offenbarung, ich hing und hänge an ihren Lippen. Und auch wenn es vielleicht vermessen ist, das zu sagen, oder profan und banal, aber sie erinnert mich im Interview an das Gesicht meiner Oma, als ich ein Kind war, und ihre Aussprache, ihre Stimmlage und das „…, nich?“ am Ende von Sätzen, das verbinde ich, vielleicht, weil Hannah Arendt aus dem ehemaligen preußischen Königsberg kommt, auch mit der Ausdrucksweise meiner Oma aus der ehemaligen Ostmark Brandenburg. So oder so, Hannah Arendt hatte Rückgrat, stand für sich, ihre Gedanken und Einschätzungen ein, scheute keine Auseinandersetzungen, zeigte sich aber dennoch betroffen von einigen erbitterten Reaktionen auf ihren Aufsatz zum Eichmann-Prozess im New Yorker, wie der Film eindrücklich darstellt. Auf den Seiten des Deutschen Historischen Museums kann man immer noch einige Hörcollagen aus der Ausstellung nachhören und es gibt dort auch eine Podcast-Empfehlung vom rbb.
Wie man seine eigene Sprache findet, seine Stimme, seine Bestimmung und woher man das Rückgrat nimmt, unbeirrt seinen Weg zu gehen, darum kreisen meine Gedanken in diesen Tagen. Gestern bin ich kurioserweise beim Lesen der Biographie „Becoming“ von Michelle Obama an der Stelle im Buch zwischen den Kapiteln „Becoming me“ und „Becoming us“ darauf gestoßen, dass sich sogar Michelle Obama diese essentiellen Fragen nach dem eigenen Sinn und der Vision für das eigene Leben aufgedrängt haben („aufgedrängt haben“ ist ganz bewusst gewählt, so nagend kann es sich anfühlen, wenn man (zu) lange nicht hinhört, da spreche ich aus Erfahrung). Dass Michelle Obama an so einem Punkt war, sollte eigentlich keine Überraschung sein, aber ich war eben trotzdem überrascht, das ist ja das Schöne an Biographien: Auch andere Menschen sind nicht immer schon „fertig“ gewesen, sondern einen Weg gegangen und lassen uns vor ihrem inneren Auge nochmal mitkommen und mitfühlen. Im Hamsterrad des Alltags, in vermeintlicher Sicherheit, mit klaren Lebensentwürfen, vorgezeichneten Stationen, stabilem Einkommen, im Spiegelbild einer Mehrheitsgesellschaft, die das Leben auf eine bestimmte Art und Weise führt, in der man sich bestenfalls lückenlos einfügt, ist oft kein Platz zum Innehalten und für die Beschäftigung mit den eigentlich drängenden Fragen nach unserer Existenz: Wer bin ich? Warum sind wir hier? Was kann ich tun? Was will ich bewirken? Was ruft mich? Was spricht zu mir? In diesem Kontext auch immer wieder sehr empfehlenswert: Das Buch des argentinischen Autors und Psychiaters Jorge Bucay „Drei Fragen. Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem?“
Was mit solchen Fragen unweigerlich Hand in Hand geht, ist Konfrontation, übrigens von lat. frons, frontis = Stirn. Nicht mit dem Kopf durch die Wand also, sondern jemandem oder etwas ins Auge sehen, Stirn an Stirn, von Angesicht zu Angesicht, Stirn gegen Stirn, etwas gegenüberstellen. Was ist und was soll sein? Wunsch versus Realität? Jetzt und zukünftig? Living a life to its fullest? Diese Konfrontation, das kann ich als konfliktscheue Person sagen, macht Angst und ist Arbeit. Aber ich bin überzeugt davon, dass es on the long run zu Freiheit, Freude und innerem Frieden führt. Was auf dem Weg immer ganz tröstlich ist: Selbst Menschen, die es vermeintlich „geschafft“ haben, sind nicht im Besitz einer geheimen Formel oder Rezeptur, uns allen überlegen, um Längen voraus und unerreichbar. Nein, das einzige „Geheimnis“ liegt – komm näher, ich flüstere es dir ein – in ihrer – wait for it – B E H A R R L I C H K E I T
So, nun ist die Katze aus dem Sack. Mehr braucht es fast nicht. Diese Erkenntnis hat mir einen Schlag versetzt, denn da gibt es keine Ausreden mehr. Beharrlich zu sein, ist das einfachste und schwierigste zugleich. Aber eins ist es jedenfalls nicht: unmöglich. Für mich heißt das: Weiter in die Tasten hauen, Bleistiftminen abrunden und wieder anspitzen, Gedanken nicht unbesehen weiterziehen lassen wie Wolken am April-Himmel, während man im Home-Office sitzt, sondern den Blick auf sie richten, sie aufschreiben, sie hüten wie kleine Schätze, die früher oder später den ein oder anderen Text zieren werden. Dass es wertvoll und wichtig ist, auf dem Laufenden mit sich selbst zu bleiben, sich und seine Umwelt genau zu betrachten und in Worte zu kleiden, habe ich diese Woche von einem Workshop mit dem Schriftsteller Titus Müller mitgenommen. Ich fühlte mich so an die Zeiten meines Studiums und die inspirierendsten Germanistik-Vorlesungen erinnert, so viel Charisma und Leidenschaft – das ließ mein Herz gleich höher schlagen.
So soll es weitergehen: mit meinem ganz eigenen Beat und der Beharrlichkeit, im Rhythmus mit meinen eigenen Herztönen zu leben.
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache