Morgen ist heute schon gestern, das ist das Problem mit der Zeit. Gleich einem Stream of Conciousness möchte ich in erster Linie mich selbst auf dem Laufenden und im Fluss halten (schon der griechische Philosoph Heraklit hat um 500 v. Chr. festgestellt, dass alles fließt – πάντα ῥεῖ). Der geneigte Leser ist natürlich herzlich eingeladen, mit mir in den Fluss zu steigen und sich von meiner Strömung tragen zu lassen.
Aber Achtung: Zum Thema Wasser hat Heraklit noch mehr Bemerkenswertes gedacht (wobei dieses Zitat laut Wikipedia nur als vage Anlehnung an den Originaltext gilt): „Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.” Heißt das jetzt, wir können nicht zusammen in meinen Gedanken baden? Jein.
Das kann einerseits das Textweltmodell erklären: Das, was ich schreibe, die Art, wie ich Wörter und Sätze miteinander verknüpfe (lokale Ebene) und daraus ein aussagekräftiger Text wird (globale Ebene), ist nur eine Seite der Medaille. Beim Lesen müssen die Buchstabenkombinationen und Sätze, die Bezüge und Verweise wiederum nachvollzogen und mögliche Leerstellen geschlossen werden. Um das als Leser*in bewältigen zu können, braucht es ganz schön viel (Vor)Wissen. Das, was man schon weiß, verbindet sich dann mit den neuen Informationen aus dem Text. Und da ist auch der Knackpunkt: Jeder weiß eben anders viel. Manch einer fühlt sich durch ein Wort an etwas erinnert, mancher verbindet mit einem Satz seinen ganzen letzten Sommer, mancher betritt völliges Neuland. Das Textweltmodell erklärt also, wie der Text mit der Erfahrungswelt des Lesers zusammenspielt und ein mentales Modell bildet.
Zurück zum großen Jein. Neben der Schwierigkeit des Leseprozesses besteht außerdem die Schwierigkeit des Subjekts. Wir steigen in denselben Fluss, weil ich etwas schreibe und der*die geneigte Leser*in meiner Spur folgt. Wir sind dennoch nicht im selben Fluss, weil meine Erfahrungswelt sich möglicherweise stark von der des Lesers unterscheidet, weil jeder seine eigenen Assoziationen hat, seine eigenen Auffassungen und Wahrheiten. John Green, der amerikanische Bestseller-Autor, hat einmal in seinem Youtube-Kanal erklärt, dass es beim Lesen ja aber glücklicherweise überhaupt gar nicht auf die Autorenintention ankommt, ja, dass sie nicht mal von Bedeutung für Text oder Leser ist.
Genau deshalb und trotzdem lade ich recht herzlich zum fröhlichen Gedanken-Plantschen ein! Lassen wir uns einfach treiben im Zeitenstrom zwischen vormorgen und übergestern.
Lesetipp: Rosebrock, Cornelia: Was ist Lesekompetenz, und wie kann sie gefördert werden? In: Leseforum.ch. Online-Plattform für Literalität. 3/2012. abrufbar unter: www.forumlecture.ch/myUploadData/files/2012_3_Rosebrock.pdf (Zugriff am 06.06.2016)
Videotipp: https://www.youtube.com/watch?v=cmonGuE789I (John Green zur Autorenintention)
Heraklit: https://de.wikipedia.org/wiki/Panta_rhei
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache