Dieser weise Satz ist meiner Schwester gestern zufällig herausgerutscht, als sie am Nachmittag bei Tages- und Deckenlicht versucht hat, ein Bewerbungsfoto für mich zu schießen. Dann hielten wir einen Moment inne angesichts des Tiefgangs ihrer Aussage. Und dann prusteten wir los. Heute ist mir nicht mehr so zum Lachen zumute, denn nun offenbart der Satz schon seine bittere Wahrheit: Ich kehre von einem Kurzurlaub zurück nach Breslau und eine entscheidende Konstante meiner letzten Monate fehlt: Drei meiner Freundinnen haben in kurzen Abständen die Stadt verlassen, ihre Zeit hier ist (vorerst) vorüber und damit auch unsere gemeinsame. Es gab sehr viele lichte Momente, unsere Treffen und Unternehmungen waren strahlend schön, die Sonne ging auf, wenn wir uns sahen, auch im kalten polnischen Winter und trotz Smog in der Luft. Und nun, da die drei gegangen sind, legt sich erst einmal ein düsterer Schatten auf mich. „Je schwerer der Abschied, umso schöner die Zeit“, hat es Luisa ganz richtig formuliert. Eben genau wie „Wo kein Licht ist, gibt’s auch keine Schatten.“
Mit Luisa hatte ich auch ein höchst interessantes Gespräch über Licht und Schatten – im übertragenen Sinne. Es ging um die Frage, warum so viele unserer Bekannten und Freunde nicht gewillt sind, aus dem Schatten der Lebensentwürfe ihrer Eltern und Großeltern herauszutreten und ihr Gesicht vorurteilsfrei von den Möglichkeiten der Welt bescheinen zu lassen. Warum wird so Vieles unreflektiert reproduziert? Eine sehr simple, wenn auch traurige Antwort ist, dass es der bequemere Weg ist. Natürlich soll aber keiner dafür verurteilt werden, den bequemeren Weg gewählt zu haben; das ist ja durchaus nachvollziehbar. Aber es bedeutet eben leider auch oft unausgeschöpftes Potenzial und ausgebremste Kreativität.
Natürlich kommt es immer darauf an, wonach man strebt und was einem persönlich wichtig ist. Und jeder wird immer versuchen, seine Vorstellung zu verwirklichen und jedwede Schritte einleiten – allein aus diesem einzigen Anlass. Das kann ein Freiwilligendienst in Südafrika sein, ein neues Auto, der Versuch, plastikfrei zu leben (Stichwort Plastikfasten!) oder das Abhaken der Checkliste „Mein Haus, mein Partner, meine Kinder, mein Job.“
Es kommt bei der Erreichung dieser persönlichen Ziele auch immer darauf an, in welche Beziehung man sich zur Welt setzt: Teil-Ganzes-Beziehung, Mittelpunkt der Erde oder Nabel der Welt, kleines Licht, träge Masse, steter Tropfen höhlt den Stein? Ist dein Leben eine Aufwärts- oder Abwärtsspirale, eine Sinuskurve, folgt ein Ereignis chronologisch auf das andere oder herrscht ein anachrones Chaos? All diese Faktoren spielen in die Gelingenswahrscheinlichkeit unserer Vorhaben, neben genetischer Disposition, Sozialisation und Bildung, soziokulturellem Status, individuellen Merkmalen, Charakterzügen etc.
Fakt ist aber, bei allem, was wir tun, werden wir versuchen, es in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang unseres Lebens einzubetten. Und unsere mitunter emotional gesteuerten, unüberlegten oder aus einem Zufall heraus geborenen Handlungen zu rationalisieren. Denn ohne diesen roten Faden gingen wir in unseren eigenen Lebensereignissen unter. Oder müssten uns ernsthaft mit unserem Selbst und dem ganzen Universum auseinandersetzen. Eine Aufgabe, der unser Gehirn eindeutig nicht gewachsen ist!
Und auch beim Blick nach vorne steigt das Gehirn leicht mal aus, denn wir sind täglich mit so vielen Entscheidungen konfrontiert, die sich in irgendeiner Form auf unsere Zukunft auswirken könnten, dass wir wahlweise schreiend im Kreis rennen oder den Kopf in den Sand stecken müssten. Beppo Straßenkehrer muss mir daher zurzeit immer wieder Einhalt gebieten. Er, der sich so gut mit (Lebens)Wegen auskennt, sagt in Michael Endes Momo: „Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang: das kann man niemals schaffen, denkt man. (…) Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. (…) So darf man es nicht machen. Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich.“ So ermahne ich mich selbst in den letzten Tagen immer wieder: Nur bis zum nächsten Besenstrich, Pani Anni.
In „Momo“ stecken übrigens noch so viel mehr Wahrheiten und Weisheiten, dass eine Lektüre dringend angeraten wird! Noch dazu geht es auch in dem Roman um Licht und Schatten: Es gibt Momo, die allen Menschen zuhört, ihnen Freude bringt und deren Kreativität fördert. Die Gegenspieler sind die sogenannten grauen Herren, gemeine Zeitdiebe, die die Menschen zum Zeitsparen zu zwingen versuchen und ihnen damit alle Lebensfreude rauben. Die grauen Herren verwandeln alle Stadtbewohner allmählich zu einer grauen Masse und es dauert einige Zeit, bis Momo mit Hilfe der Schildköte Kassiopeia und Meister Secundus Minutius Hora (ein sprechender Name, juhu, und auch noch auf Latein!) Licht ins Dunkel bringen kann.
Apropos Kassiopeia und Dinge, die unser Gehirn nicht fassen kann: Letztes Jahr kurz vor Silvester habe ich einen unglaublichen Sternenhimmel gesehen, alles war erleuchtet, groß und greifbar nah. So viele Sterne habe ich selten gesehen. Wir waren gerade auf dem Nachhauseweg vom Besuch bei einer Freundin, alle Straßenlaternen waren schon seit ein paar Stunden erloschen, es gab nur die Dunkelheit, den großen Mond und die abertausend Sterne. Der Anblick war ebenso großartig wie angsteinflößend und wir irrten ziemlich eiligen Fußes die wenigen Meter auf der Spielstraße entlang zu unserer Haustür – zu beeindruckt, um wegzuschauen, zu beängstigt, um hinzuschauen. Wir konnten es einfach nicht (er)fassen, denn die Vergegenwärtigung der eigenen Nichtigkeit im Sternenmeer wirft zu existentielle Fragen auf.
Diese existentiellen Fragen sind wie ständige Begleiter, dauerhafte Schatten, zu manchen Zeiten klein und gedrungen, mal langgezogen und über-schattend, manchmal hinter uns und nicht direkt sichtbar, manchmal treten wir sie mit den Füßen. Wir müssen nur lernen, wie Beppo Straßenkehrer, nicht alles auf einmal sehen zu wollen, sondern dosiert. Genauso, wie die Schildkröte Kassiopeia genau eine halbe Stunde in die Zukunft sehen kann, nicht mehr. Und genauso, wie Momo im Nirgendhaus außerhalb der Zeit lernt, dass man, um schnell voranzukommen, alles langsam tun muss.
Mit dem Bewerbungsfoto ist es übrigens nichts mehr geworden – da müssen wir wohl auf andere Lichtverhältnisse warten. Die Tage werden wieder länger… Ich bin gewillt, auf Licht zu warten, und nehme dann auch die Schattenspiele in Kauf.
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache