Im September war ich schwer beschäftigt und überglücklich. Der Monat war wohltemperiert, der Himmel war weit und blau und vielversprechend. Ich hatte mich zurückwerfen lassen von einer Metropole hinein in die Vertrautheit einer Mittelstadt. Eine Mittelstadt, die nah am Wasser gebaut ist, ein Wasser, dass noch im August nur tote Fische trug und zu viel Salz; eine Mittelstadt, in der Grenzen verschwimmen und leicht überschritten werden können, wo eine Brücke gespannt ist, die, mit dem voranschreitenden September immer nebulöser wurde, eine Brücke, die zur nächsten Sprache führt und die mir aus meiner Zeit in Wroclaw noch so wohl im Ohr klingt; eine Mittelstadt, die man nach kurzem Aufenthalt schon durchschaut zu haben glaubt, die aber doch auch eigensinnig bleibt und etwas mysteriös; eine Mittelstadt, die früh auf den Beinen ist und leider besonders montags laut, wenn dunkle Menschenansammlungen unbehelligt und Unruhe verbreitend durch die Straßen ziehen; eine Mittelstadt, in der ich vier Wochen lang Zaungast sein durfte, vom Balkongeländer herüber- und herunterblickend zum Oderturm und dem Brunnenplatz mit bunter Wasserkunst, deren Handschrift mir aus meiner heimatlichen Kleinststadt wohlbekannt ist – nicht zu verwechseln mit Kleiststadt, das ist Frankfurt an der Oder nämlich auch.
Heinrich von Kleist studierte Ende des 18. Jahrhunderts in Frankfurt an der Oder. Seine Überlegungen zur allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden werden gern auch im Kontext der Schreibwissenschaft zitiert. Kleist empfiehlt 1805 in einem Aufsatz, unfertige oder noch nicht ganz ausgegorene Gedanken mit einem Gegenüber zu besprechen, um zu Erkenntnissen und Lösungen zu gelangen:
„Ich glaube, daß mancher großer Redner, in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde. Aber die Überzeugung, daß er die ihm nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen, und der daraus resultierenden Erregung seines Gemüts schöpfen würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzen.“
Kleists Methode ist deshalb so sinnvoll, weil durch den Austausch eine lineare Struktur erzwungen wird, ein logischer Aufbau notwendig ist, der Bezug zum Gegenüber obligatorisch.
Der Bezug zum Gegenüber, ist das nicht auch der Kern allen Sprachenlernens? Hier schlage ich eine zugegeben zwielichtige Brücke zurück zum Grund meines Frankfurt-Aufenthaltes im September: Als Sprachlehrerin habe ich mit internationalen Studierenden ohne Deutsch-Vorkenntnisse die ersten großen Schritte in die deutsche Sprache und in die Erkundung der Mittelstadt gemacht. Wir waren quasi alle fremd in der Stadt, die Teilnehmenden zusätzlich fremd in der Sprache, ich fremd in der Rolle der sprachlichen Grundsteinlegerin, alle entfernt von Heimat, Vertrautheit, Gewohnheit.
Genau diese Vertrautheit herzustellen, untereinander und in der Sprache, war mir das oberste Ziel. Dafür habe ich sehr viel an der Gruppendynamik gearbeitet, Partner- und Gruppenformate immer wieder neu gemischt, den Raum für Bewegung und Begegnung genutzt, unseren Radius immer wieder erweitert durch Spontanausflüge auf die Insel Ziegenwerder und durch Stadtrallyes mit der App Actionbound. Wir haben uns mit Klang und Schriftbild vertraut gemacht, gehört und gelesen, gerätselt und Gespräche simuliert, Perfekt, Partizipien und Possessivpronomen gelernt, die Dativ-Deklination geübt, Lieblingsstädte präsentiert, über Kunst gesprochen, Familienkonstellationen und Zimmer beschrieben und je eigene Gedichtversionen des schönen 27. September von Thomas Brasch verfasst. Die Sonne schien und es war warm und irgendwann kalt und irgendwann bewölkt, der Himmel war immer in Bewegung, es hat geregnet oder genieselt, es wurde morgens später hell und abends früher dunkel und wir haben Memory gespielt und Domino, Einkaufen und Bestellen, Würfel- und Brettspiele, Pantomime, Montagsmaler und Detektiv, haben gepuzzelt, sind durch die Stadt gerannt, haben gelacht und ganz zum Schluss wehmütig zurückgeschaut.
Wir haben alle so viel gelernt in dieser Frankfurter Kulisse und es war mehr als nur die deutsche Sprache. Und nun habe ich schreibend den Mund aufgemacht und wusste am Anfang noch nicht, was ich sagen würde vor lauter sirrender Gedankenfülle, wenn ich an den schönen September in Gesellschaft denke, und habe nun doch etwas zustande gebracht. Fortsetzung folgt.
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache