Nachdenken über das Leben und den Tod, das Werden und Vergehen, das Einnehmen von Platz und Raum und die zurückbleibende Leere am Ende. Aber mit der Leere kommt auch immer die Lehre, die Einsicht, kommt das Nachdenken über und Verstehen von größeren Zusammenhängen, kommen die großen Gedanken, die zu groß sind für das menschliche Alltagsgeschäft und oft auch für den menschlichen Verstand, kommt das Transzendente ins Spiel, das uns vielleicht – sehr wahrscheinlich sogar – viel mehr zusammenhält und mit der Welt verbindet als wir es allein mit unseren fünf Sinnen begreifen können. Es ist verwunderlich, es ist tragisch, es ist magisch, wie sich Ereignisse, Schicksale, Gedanken in unser aller Leben von Zeit zu Zeit immer wieder verbinden, wie unvorhersehbar und doch regelmäßig sich Energien bündeln, sich Spiralen bilden, wir miteinander verwoben werden, wie das Leben eben so spielt. „Man muss es nehmen, wie es kommt“, hat meine Oma immer gesagt und würde es auch jetzt noch sagen, an einem guten, klaren Tag, behütet, wenn die Gedanken aus einem Guss sind und nicht über die Ufer treten oder nur noch aus vereinzelten Rinnsalen bestehen, die kein Fluss mehr werden wollen.
„Man muss es nehmen, wie es kommt.“ Das hat etwas Stoisches: Allem mit Gleichmut zu begegnen und anzunehmen, was da ist. Ich habe Oma schon immer dafür bewundert, dass sie ihr Schicksal besonnen angenommen und das Beste daraus gemacht hat – was blieb ihr in den Zeiten um und nach dem Zweiten Weltkrieg schon anderes übrig?! Dieses Narrativ, das ihr sicherlich auch schon von ihrer starken und tapferen Mutter Anna Albetzky weitergegeben wurde, hat sich fest in uns folgende (Frauen?-)Generationen eingeschrieben und uns bestimmt gut gerüstet für die herausfordernden Situationen in unserem Leben. Trotzdem bin ich noch lange nicht an dem Punkt, den Oma schon längst perfektioniert hatte, als ich sie kennengelernt habe: Anschauen, was ist, und es still annehmen. In mir regt sich oft Widerstand, es ist ein innerer Widerstreit aus Akzeptanz und Auflehnung: Muss ich alles annehmen? Muss ich alles hinnehmen? Manchmal hat man eine Wahl, manchmal hat man keine; Wütend-Sein, Bedauern, Danken, Trauern geht aber in beiden Fällen, ich denke, das darf sein und ich versuche mir all diese Gefühle mit Nachsicht für mich selbst zu erlauben.
Das Weltgeschehen hat uns im letzten Jahr alle herausgefordert, global und überindividuell, aber auch jede*n für sich persönlich: Pläne, die nicht verwirklicht werden konnten, Ziele, die man nicht erreicht hat, Familie und Freunde, die ungesehen und unberührt bleiben mussten. Und wir alle in der Welt halten immer noch den Atem an. In unserer Familie wurde noch dazu, aber weitgehend Corona-unabhängig das familiäre Gefüge in den Grundfesten erschüttert. Das Jahr in Verben: Sorgen, Pflegen, Hoffen, Aufatmen, Bangen, Da-Sein, Mit-Leiden, Geben, Geben, Geben, Sehen, Warten, Erkennen, Verabschieden, Weinen, Weiter-Leben, Trauern, Weiter-Leben, Atmen, Starren, Stillstehen. Nach dem Stillstand kommt die Bewegung, nach dem Ausatmen das Einatmen, so muss es sein, auch wenn man sich vielleicht dagegen sträubt und lieber ausharren und weiterstarren möchte und das wollte ich erstmal, weiße Wohnzimmerwände und Wellensittiche anstarren und entrückt sein von der Welt. Aber durch die Verschiebungen im Außen haben sich unweigerlich Verschiebungen im Innern ergeben, die neue Fragen, Erkenntnisse und innere Aufträge zutage gefördert haben, und mit ihnen auch die nötige Kraft, um all dem Schritt für Schritt zu begegnen.
Im März vor einem Jahr habe ich den letzten Blog-Artikel geschrieben, seither habe ich geschwiegen, denn ich hatte nichts zu sagen, habe nur beobachtet, was um mich herum und in der Welt passiert, und stillgehalten. Vor einem Monat kam ich zum Schreiben zurück und habe mich darüber wieder mit mir selbst verbunden, Altes zur Hand genommen, meinen Schreib-Weg nachgezeichnet, gestaunt, gehadert, gedankt, neue Ideen und Visionen entwickelt, Warum gefragt und Antworten gesucht und als Antwort neue Fragen bekommen. Die neuen Fragen kommen in Wellen, drängen sich mir auf, sind unbequem und ungemütlich, aber wahrscheinlich gerade deshalb so brennend, wichtig und richtungsweisend. In den letzten Monaten habe ich mir wieder ein Netz gewoben, das mich nicht fallenlässt und die drängenden Fragen mit mir gemeinsam angeht. Ich habe mir wieder einen sichereren Hafen geschaffen, konnte mich wieder erden, bin aber auch immer noch umgeben von aufgewühlter Erde, die hoffentlich ein paar Schätze für mich beherbergt, auch wenn ich sie jetzt noch nicht erkennen kann. Was ich aber inzwischen schon erkannt habe ist: die innere Notwendigkeit zu schreiben. Wieder zu schreiben, weiterzuschreiben, gut mitzuschreiben, meine Geschichte zu schreiben, für mich, für dich – auf das Leben, auf das Schicksalhafte, auf das Wachsen, auf das, was uns zusammenhält – Chin-chin!
Ich danke dir von Herzen fürs Mit-Lesen, für deine Unterstützung und Ermutigung. Wir hören voneinander.
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache