Ich bin sehr oft auf Reisen – in Gedanken. Immer wieder gerne reise ich zum Beispiel von Madrid über Valencia nach Barcelona, über Montpellier nach Marseille und entlang der Cote d’Azur bis nach Italien, nach Ventimiglia, San Remo, nach Mantova und über Innsbruck zurück nach Deutschland. Ich zeichne die Route nach, sehe mich mit meiner Schwester auf europäischen Straßen, Plätzen und Gleisen wandeln, betrachte die Mittelmeerküste durch Zugfenster, spüre sie unter meinen Füßen; sie ist das sandig-blaue Band, das sich durch unsere Reise zieht, wie wir vom Zug gezogen werden.
Und während die Tour durch Intermeer und Mittelrail vor etwa einem Jahr realiter ihren Anfang nahm, bin ich gerade in den letzten Zügen meines kleinen ad honorem eius Abenteuers, das am Dienstag in Rom begann und seit gestern im Nachtzug stationsweise endet.
Die neuen Eindrücke legen sich wie Pauspapier auf die schon gegangenen Wege, auf die einst gekannten Wörter, gehegten Wünsche, gewesenen Wahrheiten. Es gibt ein Rom aus den Lateinbüchern, ein Schulklassen-Rom, ein Familien-Rom, ein Rom mit alter Musik im Teatro dell’opera, ein Rom mit Kennern und Kellnern, die im Baffetto die beste Pizza servieren.
Es gibt immer wieder den Weg nach Trento, der fast unmerklich und bedauerlicherweise zu einem Weg durch Trento geworden ist.
Und es gibt immer wieder Begegnungen, Wiedersehen mit alten Freunden und zu meinem großen Unmut alten Leiern aus deutschen Mündern, die hier kurz skizziert werden sollen, um sie mir aus dem Kopf zu schreiben.
Trento, März 2016: Eine aus Deutschland ins Trentino ausgewanderte Mitt-50erin fragt mich, das deutsche Au pair-Mädchen, woher ich komme. Auf meine Antwort “aus Jena” folgt der Kommentar “Ah, aus dem Osten. Hm, da war ich noch nie. Einmal in den 80ern kurz in Berlin über die Grenze geguckt, mehr musste man ja nicht sehen.” Dazu ein – Achtung, ich interpretiere nur – abschätziger Blick.
Genzano bei Rom, Juli 2018: Eine aus Deutschland nach Rom ausgewanderte Mitt-50erin fragt mich, die Mitbewohnerin der Tochter ihrer Freundin, woher ich komme. Meine Antwort: “Aus Jena.” Sie: “Ach, aus Ostdeutschland.” Nach dieser Überraschung fügt sie hinzu: “Oder naja, das gibt es ja jetzt so nicht mehr.” Achso! Ich erkläre ihr, dass Jena ja sozusagen in der Mitte Deutschlands liegt. Dann erzähle ich weiter: “Aber jetzt lebe ich in Polen und unterrichte dort Deutsch an der Universität.” Ihr Lächeln friert ein. Eingefroren sagt sie: “Wie schön, sieh an, schön.” Ihr scheinen die Worte zu fehlen. Das ist ja noch weiter im Osten als Ostdeutschland, sehe ich sie förmlich denken.
Genzano bei Rom, 2 Tage später: Eine mit ihrem Mann aus Deutschland nach Rom ausgewanderte Mitt-50erin fragt mich, die Mitbewohnerin der Tochter ihrer Freundin, woher ich komme. Nach meiner Antwort stellt sie fest: “Du bist also Ostdeutsche.” Sie redet direkt weiter: “Jena soll ja schön geworden sein.” Ich erzähle ihr, dass auch Dresden und Leipzig durchaus sehenswert sind. Sie antwortet – ich interpretiere: ungläubig und desinteressiert – “Hm, da war ich noch nie.” Sie hingegen komme ursprünglich aus Karlsruhe, ihr von der italienischen Sonne braun gebrannter Lebemann aus Bamberg, aber zusammen hätten sie in Wiesbaden gelebt, erzählt sie mir mit bildungsbürgerlicher Manier, woraufhin ich anmerke, dass mir alle drei Städte ausgesprochen gut gefallen (ich war schon in jeder davon).
Ich habe drei Erklärungsmodelle für diese immergleiche Szene (mehrfaches Ankreuzen ist erlaubt):
1. Die Zeit ist bei Mitt-50-jährigen Auswanderern aus Deutschland einfach irgendwann in der “alten” Bundesrepublik stehen geblieben, als sie nach Italien ausgewandert sind.
2. Ignoranz.
3. Desinteresse.
Wer noch eine Erklärung beisteuern kann, bekommt von mir eine Banane geschenkt. Haha, konnte ich mir nicht verkneifen!
Meiner italienischen Mitbewohnerin geht es übrigens nicht anders, als sie in Italien alte Bekannte auf den neuesten Stand bringt und ihnen erzählt, wo sie seit einem halben Jahr arbeitet: Komische Blicke, mehrmaliges Nachfragen, Stereotype und Vorurteile, die unreflektiert auf dem Silbertablett präsentiert werden.
Mein Wunsch: Nicht sofort und allein auf der Basis eines Heimatortes als defizitär wahrgenommen zu werden (und dieser Wunsch ist universal und weltumspannend)
Meine Forderung: Die Mauer muss weg!
Ein Weg: Zuhören, nachfragen, hinfahren. Am besten gleich noch weiter in den Osten/Süden/Westen/Norden. Reisen hilft. Zwar auch, aber nicht nur in Gedanken.
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache