Wann hattest du das letzte Mal einen richtig stillen Moment? Keine störenden Geräusche, keine Ablenkung, keine E-Mail- oder WhatsApp-Benachrichtigungen, keine Musik im Hintergrund, nur dein Atem? Seit Anfang des Jahres lese ich immer mehr Bücher darüber, was unsere digitalisierte Gesellschaft ausmacht und dass Momente des Nichtstuns oder der Langeweile kaum mehr existieren. Doch genau diese Phasen sind es eigentlich, in denen wir zur Ruhe kommen, in denen wir Erlebtes setzen lassen und verarbeiten: So wie in einem Glas mit Wasser und aufgewirbeltem Sand – der Sand kann sich erst am Boden absetzen, wenn das Wasser lang genug in Ruhe gelassen wird.
Smartphones und Social Media sind dabei sicher die einschneidensten Veränderungen der letzten Jahre. Ich weiß noch, wie das Leben vor meinem ersten Smartphone aussah (das war vor über 11 Jahren) – es war definitiv ruhiger. Und es war gesellschaftlich noch nicht akzeptiert, sich ständig davon stören zu lassen, Gespräche mit einem Blick aufs Handy zu unterbrechen, es in der Uni, auf Arbeit, am Essenstisch ganz offen neben sich liegen zu haben, ständig nur nach unten zu schauen. Manchmal fahre ich Tram oder S-Bahn, beobachte die anderen an der Haltestelle oder im Wagen und zähle. Es ist immer wesentlich mehr als die Hälfte der Mitwartenden oder -fahrenden, die mit dem Smartphone beschäftigt sind, manchmal sogar alle. Ein echtes Im-Moment-Sein wird dadurch unmöglich, genauso wie Aufmerksamkeit, Kontakt oder innerer Frieden.
Ich habe gut reden, denn nach dem Zählen bin auch ich es oft, die ihr Smartphone in die Hand nimmt und “nur ganz kurz” oder “sehr dringend” etwas nachschauen muss. Deshalb war ich vor ein paar Wochen auf einem Reset-Wochenende irgendwo in Brandenburg: 7 Personen, keine Smartphones, im besten Fall nicht einmal Bücher als Ablenkung. Nach dem Frühstück haben wir Zeit in Stille verbracht, jede und jeder für sich, ohne miteinander zu sprechen, beim Spazierengehen, Schreiben, Nachdenken, Gedanken sortieren. Erst ab 17 Uhr haben wir uns als Gruppe wiedergetroffen und uns beim gemeinsamen Kochen unterhalten. Am Anfang habe ich mir Sorgen gemacht: Kann ich überhaupt für 3 Tage ganz ohne Smartphone auskommen? Und kann ich überhaupt so lange mit meinen Gedanken allein sein? Meine Zweifel haben sich dann schnell in Luft aufgelöst: Wir wurden so gut begleitet, angeleitet, umsorgt und behütet, die Atmosphäre war friedlich und wohlwollend. Ich habe jede ungestörte Minute genossen. Und auch die Zeit in Gemeinschaft hatte plötzlich wieder eine ganz andere Qualität: Wir waren bei uns selbst, wir waren im Moment, wir haben uns tatsächlich aufeinander eingelassen. Es gab keine Unterbrechungen, keine Störungen, kein Sich-Herausnehmen, keine Ereignisse, die über unseren Raum und unsere Zeit hinausgingen. Ein Gefühl, dass sonst nur eine ferne Erinnerung ist.
Eine Erinnerung an das Haus meiner Großeltern, an die alte Truhe, in der immer die Buntstifte und Bauklötze für uns aufbewahrt wurden, an die Schienen, die wir auf dem Teppich zu Bahngleisen zusammengesteckt haben, an Bilder, die ich mit Blick aus dem Fenster gemalt habe. An gedankenverlorenes Spielen mit einem Tischtennisball oder einem Spielzeugauto im Flur. An Mittagessen im Garten mit Oma und Opa. Wir hatten Zeit. Es war ruhig. Ich war geborgen. Niemals hat etwas unsere Stille unterbrochen, niemals wären meine Großeltern nicht aufmerksam gewesen.
Spielen ist per se absichtslos. Erst das macht es so wertvoll, spaßig und flow-erlebend. Die Absichtslosigkeit ist uns wohl abhanden gekommen in dem Versuch, immer sofort alles zu wissen (“Ich google das nur schnell”), immer sofort alles haben zu wollen (“Ich bestell das nur kurz”), immer sofort alles zu lösen (“Mach mal schnell ‘nen Termin”), immer sofort alles zu kalkulieren (“Das Navi sagt, nur 13 Minuten”), immer sofort alles auszublenden, was nur das kleinste Unbehagen auslösen könnte (“Guck dir mal kurz das Reel an haha”).
Erst in der Absichtslosigkeit, im Gefühl von Fülle an Zeit und Ruhe, habe ich seit Langem wieder geschrieben und gemalt. Erst, als ich keinen Druck gespürt und mir selbst keinen gemacht habe, saß ich schreibend am Fenster und habe mich abends nach dem Essen schon danach gesehnt, wieder auf dem Bett am Fenstersims zu sitzen, meine Texte mit frischem Blick noch einmal zu lesen und weiterzuschreiben. Erst in der Absichtslosigkeit konnte der Sand auf den Boden sinken und das trübe Wasser wieder klar werden.
Und nun sitze ich hier im Haus meiner Großeltern am Fenster, nur ein Zimmer weiter vom Fenster meiner Kindheit, aus dem ich geschaut habe, während wir ein Spiel nach dem anderen auf dem Teppichboden verteilten. Der Blick ist fast derselbe: Holzstapel der Nachbarn, Schiefer, ein Balkon, dahinter Hügel und Wälder bis zum Horizont. Ein toller Ort, um dem Berliner Trubel auf Zeit zu entfliehen und sich in das Gefühl von Stille und Einklang zurückzuversetzen. Ich habe den Text als Newsletter-Entwurf begonnen, aber er wollte ein Blogartikel werden und dich, liebe Leserin, lieber Leser, daran erinnern, wie wertvoll und notwendig es ist, Stille zuzulassen, Langeweile auszuhalten, absichtslosen Aktivitäten nachzugehen und den Blick nach oben zu richten statt nach unten.
In meinen Workshops und Schreib-Angeboten fließen diese Gedanken und Erkenntnisse auch mit ein. Schreiben ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, im Moment anzukommen und Zeit für sich selbst zu schaffen. Am besten natürlich, so wie ich es gerade beschrieben habe, ohne Erwartungshaltung oder Leistungsdruck. Deswegen arbeite ich immer gern mit verschiedenen Schreibtechniken und -methoden, die dabei helfen, diese spielerische und neugierige Haltung anzunehmen und vergangene, schmerzhafte Schreib-Erfahrungen hinter sich zu lassen. Im Mai startet wieder der Female Writing Circle, ein 7-wöchiger Online-Schreibkurs zum kreativen und biografischen Schreiben für Frauen. Hier findest du alle Informationen.
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache