Kennt ihr dieses Gefühl von Anarchie, wenn ihr genau wisst, ihr solltet schlafen gehen, doch ihr sträubt euch dagegen, trotz der Konsequenzen, die ihr schon für den nächsten Tag absehen könnt? Wenn ihr einfach trotzdem aufbleibt? Ist das dann Trotz? Oder Freiheit, ungefähr?
Es ist, was es ist, und statt zu schlafen, mache ich eine Zeitreise ins Jahr 1978, wie mir youtube und die Frisur von Holger Biege sagen. Abgesehen davon ist eine Gänsehaut unvermeidlich und die Zutaten dafür sind simpel, aber wirkungsvoll: Es braucht nur die unsichtbare Orchesterbegleitung aus dem Hintergrund, einen Flügel und den 26-jährigen Mann im karierten Hemd, der à la Harte-Schale-weicher-Kern während seiner Performance äußerlich eher apathisch wirkt, aber dafür sein Innerstes äußerst empathisch zu veräußerlichen weiß. Und noch dazu ist die Botschaft von „Sagte mal ein Dichter“ ebenso aktuell wie vor 40 (!!!) Jahren: Erst am Samstag wieder sind beispielsweise in Wroclaw Frauen auf die Straße gegangen, um gegen das polnische Abtreibungsgesetz zu protestieren („Nicht alltäglich ist das Täglich Brot/Kinder bleiben ungeboren/Frauen haben sich geschworen/selber zu entscheiden ohne Not“). In schon wenigen Stunden dann werde ich mit meinen Studenten und Studentinnen diskutieren, welche drei Dinge im Leben man (und frau!) denn heutzutage „schaffen solle, dass es lohn“. Und welche davon wir in unserem Gedächtnis, welche wir in unserem Herzen, welche wir in unserem Fotoalbum, welche wir in unserem Lebenslauf aufbewahren und weitertragen. Worauf es also wirklich ankommt im Leben. Das sind die großen Fragen, die mich zur anarchischen und anachronistischen Nachteule werden lassen… Nur sechs Jahre vor Bieges Fernsehauftritt war übrigens der Steinkauz, eine kleine Eulenart, laut NABU Vogel des Jahres. Und, wie dem Eintrag zu entnehmen ist, geht der Bestand der Steinkäuze immer weiter zurück. Einer der Hauptgründe: Die Rodung von Streuobstwiesen und alten Bäumen.
Von wegen: „Darum scheint es mir viel klüger/einen Baum mir auszusuchen/den ich in der großen Stadt dann pfleg‘“). Pflanzt Bäume, ihr Käuze da draußen, und hört Biege dabei – auf Biegen und Brechen! (man verzeihe mir, es ist schon spät)
Ja, so einfach sprach sie aus das Wort…
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache