In den letzten Monaten bin ich abgetaucht, habe Buch für Buch für Film für Konzert für Reise für Gespräch in mich aufgesogen, habe Kultur konsumiert, es genossen und mich gleichzeitig dafür gescholten. Konsum kultiviert, verleitet aber oft dazu, nur Zuschauer zu bleiben und dem Treiben wohlwollend aus der Ferne zuzusehen.
Es fehlt der Stift in der eigenen Hand, ein Anstifter, der etwas anzettelt, gleichwohl es mir selten an Unruhe stiftenden Momenten mangelt, die in mir wabern und wogen wie Graphit und Ton in der rastlosen Bleistiftminenmaschine bei der Sendung mit der Maus. Zu oft lasse ich Gedanken stiften gehen, ohne sie auf Papier zu zwingen, ohne mit guter Mine gute Miene zum eigenen Gedanken- und Mienenspiel zu machen. Doch heute werden – nach bleierner Abstinenz – ungelenke Gedanken in Form gepresst, Bestehendes wird aufgenommen, es ist die (fast)-Midsommar-Inventur. Was ich bis hierhin gefunden, was ich (auf)gespürt habe, gehört nun mit Fingerspitzen-Gefühl (adieu Bleistiftmine, hello touchscreen) aufgelistet und inventarisiert. Mangels buchhalterischer Spitzfindigkeit folgt ein bunter Blumenstrauß an Impressionen durch die ersten sechs Monate dieses Jahres.
Januar: Wenn jemand fragt, wohin du gehst: Sag nach Bologna! Dort beleuchtete der Liedtext von Lucio Dallas „L’anno che verrà“ in goldenen Lettern die Via d’Azeglio. Beim Wandeln durch die kleine Gasse übersetzten wir schritt-weise die Verse, die das lyrische Ich an einen Freund richtet; das Lied endet mit den Worten: L’anno che sta arrivando tra un anno passerà / io mi sto preparando è questa la novità, was so viel heißt wie: Das Jahr, das gerade beginnt, wird in einem Jahr schon vorbei sein / ich bereite mich darauf vor, das ist die Neuigkeit.
Es hat fast schon etwas Tragisches, sich auf das Vergehen der Zeit vorbereiten zu wollen, obwohl es sicher ein gesundes Vorgehen ist. Dass nun, während ich das schreibe, schon wieder ein halbes Jahr vorbei ist, darauf bin ich nicht vorbereitet und blicke wie so oft wehmütig in die gefühlsschwanger erleuchteten Winkel und Gassen meiner Erinnerung.
Februar: Auf diesen Schritt hatte ich mich tatsächlich länger vorbereitet, aber vier Monate später kann ich sagen, dass man auch mit der besten Vorbereitung nicht mit allen Wassern gewaschen und für alle Eventualitäten gewappnet sein kann (obwohl ich es trotzdem hätte erahnen können, denn zwei Jahre zuvor gab es im Februar 2017 einen ähnlichen Lebens-Einschnitt, der im Rekulturschock/Re-entry-Schock endete): Der Rück-Umzug nach Deutschland nach längerem Auslandsaufenthalt. Selbst nach vier Monaten re-entere und eiere ich gefühlt immer noch, was mich zuweilen ungeduldig, unglücklich und unleidlich macht und im nächsten Moment wieder in unbedingte und unstillbare Sehnsucht nach dem Fremden (oder Wohlvertrauten) ausufert.
März: Aufregender als alle Rezepte von Yotam Ottolenghis Simple-Kochbuch zu kochen, wird es in diesem Monat kaum. Es ist der Versuch einer künstlich geschaffenen Routine, um das Einleben besser zu bewältigen, es schmeckt unglaublich lecker, macht allein aber keine große Freude.
Was auch keine große Freude macht: Fragen zu beantworten, die in etwa so gehen: „Und wohnst du da jetzt ganz alleine?“, „Du hast also keinen Freund?“ und leider nicht so: „Was hast du jetzt für einen Job?“, „An was forschst du denn?“ Dass mein Beziehungsstatus relevanter ist als meine (beruflichen) Fähigkeiten und persönlichen Ziele, fühlt sich zuweilen so an, als würde etwas mit mir nicht stimmen. Single Shaming nennt Gunda Windmüller das gesellschaftliche Phänomen, insbesondere Frauen als nicht vollwertig zu betrachten, die ihr Leben (bewusst und/oder gewollt, erstmal oder auch für länger) ohne romantische Beziehung meistern. Schnell werden Gründe gesucht oder vermeintlich aufmunternde Worte wie „Das wird schon noch“ oder „Bleib am Ball“ gefunden, die dann aber doch signalisieren, dass das Single-Leben eher bemitleidenswert sein muss. Ist es aber ganz und gar nicht! Keine Panik, Leute, es geht mir fantastisch!
April: Neuer Monat, verwandtes Thema. In Berlin wird das Theaterstück zu Liv Strömquists Comic „Der Ursprung der Welt“ vom Fruit of Knowledge (=FoK)-Theater- und Bildungskollektiv aufgeführt. Beides, Comic und Theaterstück, kann ich wärmstens empfehlen, um ganz ohne Scham (!) über „das weibliche Geschlechtsorgan“ und „Männer, die sich zu sehr dafür interessieren, was als das „weibliche Geschlechtsorgan“ bezeichnet wird“, aufgeklärt zu werden!
Zu meinem Geburtstag bekomme ich dann auch noch die „Storie della buonanotte per bambine ribelli“ von Francesca Cavallo und Elena Favilli geschenkt: Gute-Nacht-Geschichten starker, begabter und einflussreicher Frauen – wunderschön illustriert und längst nicht nur für Kinder!
Mai: Zwei Yogi-Tee-Zitate helfen mir über den Mai. 1. „Nichts ist wie du, nichts war wie du, nichts wird je wie du sein“ und 2. „Deine Überzeugung ist deine Stärke“. Ich bin sonst nicht angetan von Sprüchen, Weisheiten, Zitaten und besonders spirituell klingenden aber inhaltlich leeren Worthülsen, aber wenn man dazu einen leckeren Yogi-Tee trinkt und sich tatsächlich in einer kleinen Krise befindet, sind solche Sätze doch wahrlich Balsam für die Seele. Nach einer Woche ist die Krise schon überstanden und ich gehe gestärkt aus der Situation, weil ich gerade lerne das anzuwenden, was ich über alle Lebensjahre und -situationen hinweg schlichtweg ausgeblendet habe: Auf mein Bauchgefühl zu hören und für mich einzustehen. Das mag banal klingen, aber zum Lernen ist es ja nie zu spät… Daneben ist der Mai gespickt von Erkundungen in Gdansk, Frankfurt a.d. Oder und Regensburg. Alle Städte haben eins gemeinsam: Wasser (Motlawa, Oder, Donau) und Brücken, und sind darüber hinaus für mich gänzlich neu, aber alle auf ihre Art wunderschön (ja, sogar Frankfurt!).
In Regensburg überlappen sich auf wundersame Weise mehrere Zeitebenen und Handlungsstränge in meinem Leben und münden in der frohen Botschaft an mich selbst, dass ich nicht mehr 16 bin, nicht mehr 20 und nicht mehr 24, dass alte Muster ausgehebelt sind, dass ich über sieben Brücken gegangen bin (mindestens, haha), dass jedes Bacherl a Brückerl hat (danke nochmal, Stefanie Hertel) und dass aus Asche einmal auch der helle Schein wird.
Beschwingt wie ein Phönix geht’s dann von Regensburg im Mai direkt nach Ruhpolding in den
Juni: Ich habe es endlich geschafft – eine Frau braucht was Eigenes und das habe ich jetzt: Das Jodeldiplom von Jodelkaiser Josef! In idyllischer Berglandschaft inmitten von Kuhglocken-Gebimmel und Rehböcken auf einer grünen, saftigen Wiese jodeln wir uns eins und lernen eine neue Fremdsprache, bayrisch, inklusive Traditionen, Bräuche, Melodeien und Tanzschritte.
Was ich davon mitnehmen kann: Jodeln, oder allein schon der Versuch zu jodeln, macht glücklich – es ist einfach zu lustig, Du-Dödel-Du.
Was der Juni, was das Jahr noch zu bieten hat, ist ungewiss. Ich versuche mich darauf vorzubereiten, dass die Zeit wie immer schneller vergeht, als mir lieb ist. Und ich versuche fortan wieder mehr mit erhobenem Bleistift und gespitztem Zeigefinger durch die Welt zu gehen, Dinge anzustiften und aufzuzeigen, um die geneigten Leser*innen nicht so lange auf den nächsten Eintrag warten zu lassen.
Io mi sto preparando è questa la novità.
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache