Letzte Woche habe ich unverhofft ein ganz besonderes Geschenk bekommen: Ein abgegriffenes, vergilbtes Buch. Es ist weit gereist, ebenso wie Robinson Crusoe gestrandet; der ursprüngliche Besitzer muss das schon geahnt haben, als er mit blauem Kuli “Robinson Kruse” auf den Innenumschlag geschrieben hat. Ein spanischer Autor schreibt über Tokio, eine deutsche Lehrerin verkauft es in Indien an einen Spanier, der es mit nach Polen bringt, um es dort wiederum einer Deutschen zu schenken, die ohne ihren Aufenthalt in Italien niemals hierher gekommen wäre (ja, das bin ich).
Willkommen Globalisierung, das ist unsere heutige Zeit, sie lässt uns Welten erschließen, die vor wenigen Jahrhunderten unvorstellbar oder noch unentdeckt waren (wie auch im Falle von Robinsons Insel). Genauso erschien mir selbst im Kleinen mein jetziges Leben noch vor wenigen Jahren unmöglich.
Die Lebensadern verzweigen sich immer mehr, das Netz umspannt den halben Globus, mindestens. In Wrocław spreche ich mit meinen StudentInnen Deutsch, auf der Straße, in Restaurants und Geschäften umgibt mich Polnisch, mit meinen Freunden rede ich Englisch und Anfängerspanisch, in meiner Wohnung abwechselnd jeden zweiten Tag Italienisch oder Deutsch.
Sprachen zu lernen, ist eine der größten Bereicherungen in meinem Leben, auch wenn und weil es immer wieder herausfordernd ist. Die Türen sehen schon immer dann schön aus, wenn man sie nur aus der Ferne betrachtet, wenn man aufmerksam hinsieht und zuhört; dieses Zuhören habe ich zuerst in Italien gelernt, als ich als Au pair bei einer Gastfamilie gelebt habe. Später dann habe ich – immer noch in Italien, meinen polnischen Freunden aufmerksam zugehört.
Diese erste Annäherung ist eine besondere Phase des Sprachenlernens und geht mit großer Ehrfurcht und Hochachtung vor all den fremden Lautkombinationen und Satzmelodien einher. Sie ist unwiederbringlich, denn so wird sich die Sprache nie wieder anhören, wenn man einmal näher herangetreten ist und an die Pforte geklopft hat. Dann kommt die genauere Betrachtung der Holzstruktur, man sieht die Maserung, die Verästelungen, die Lasur oder abgeblätterten Lack, rostige Scharniere und Nägel, man sieht die Spuren der Zeit und der Witterung, vielleicht kleine Holzwurmgänge. Jede Holztür ist so komplex, dass man als Laie gar nicht alles sofort erfassen und einordnen kann. Es kann überfordernd sein, man weiß gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll (in der Pädagogik hat man es da mit dem Experten-Novizen-Problem zu tun).
Welches Lautinventar hat die Sprache, welchen Regeln folgt sie, wie reiht man Wörter aneinander, was heißt Ich, was ist höflich, können Sie das bitte wiederholen, nie rozumiem, porco dio, me apetece bailar, en arche en ho logos, cogito ergo sum. Und wenn man nur geduldig genug ist, den Blick schweifen und die Hände tasten lässt, macht man sich Stück für Stück mit der Tür vertraut, bis sie sich plötzlich von ganz alleine wie im Hand- oder Schlüsselumdrehen öffnet. Und dahinter steckt eine neue Welt, die man sich erschlossen hat.
Wer jetzt nicht sofort eine neue Sprache lernen, sondern sich viele verschiedene schöne alte Türen anschauen möchte, dem sei eine Reise nach Görlitz ausdrücklich ans Herz gelegt. Doch auch ambitionierte Sprachenlerner können sich direkt ans Polnische heranwagen, das nur einen Katzensprung entfernt praktisch erprobt werden kann. (Einige Gründe dafür zieren übrigens die TÜR eines Klassenzimmers am Augustum-Annen-Gymnasium in Görlitz.)
Eine, die es schon geschafft hat: Antje. Polnisch zu lernen ist nicht unmöglich!
Ebenso möglich wäre das Oberlausitzer Sächsisch, das man in jedem der hübsch restaurierten Lokale hört, nu?, oder die sorbische Sprache, die wenige Kilometer von Görlitz entfernt gesprochen wird. Ab und an kann man auch internationales Stimmengewirr hören – immer dann, wenn Görlitz zu Görliwood wird und die Kulisse für hochkarätige Filmproduktionen (z.B. “Grand Budapest Hotel” oder “Der Vorleser”) bietet. So schön ist es da, ganz wie im Film.
Wie im Film war es auch letzte Woche, als bereits erwähnter Spanier in meiner Breslauer Wohnung mitten im Stadtzentrum zu meinem Vorleser wurde und in fast meisterlicher Perfektion für mich aus dem geschenkten Buch vorlas: Auf Deutsch, naTÜRlich, A1 und 1a.
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache