Jeder hat Angst. Seine eigene, spezifische Angst. Oder den Plural davon. Es gibt die Angst vor konkreten Kleinigkeiten, wie die klischeehafte Angst vor Spinnen, die meine Mitbewohnerin pflegt. Es gibt größere Wohlstandsängste wie Flugangst. Und es gibt haarige weil existentielle Ängste, wann gibt es die nächste Mahlzeit?, wo soll ich hin?, wo bin ich sicher? Und zwischen allen bestimmt noch abermillionen Splitterängste, die man zu umgehen, zu tolerieren oder ganz zu ignorieren versucht.
Hier könnte deine Angst stehen. Eigentlich ein Foto von gefundenen Tonscherben für das griechische Scherbengericht.
Dann gibt es auch, und das weiß ich aus eigener Erfahrung, Meta-Angst, die Angst vor der Angst. Rainer Werner Fassbinder hat 1975 einen gleichnamigen Film produziert, den ich mir nun also dringend anschauen muss, wenngleich die dort thematisierte Angst ein tatsächliches Krankheitsbild darstellt, worum es im Folgenden nicht gehen soll. Ein anderer Angst-Titel von Fassbinder ist “Angst essen Seele auf”, ein Film, dessen Titel mir ein Begriff ist, seit ich zehn oder elf Jahre alt bin, als meine Mutter nämlich einmal davon gesprochen hatte, wie wichtig sowohl der Regisseur als auch die Botschaft des Films seien. Auch hier scheine ich dringenden Nachholbedarf zu haben, und 44 Jahre nach der Veröffentlichung des Films wohl auch ein großer Teil der deutschen Bevölkerung. Da wären wir wiederum bei Sorgen, etwaigen Befürchtungen, die sich in einer unbestimmten, aber erlebbaren Zukunft bewahrheiten könnten und die daher leider nicht so irrational wie Ängste sind. (Zum Glück habe ich aber immerhin viele relativierende Wörter und den Konjunktiv benutzt.)
Besser zurück zu unseren kleinen Marotten-Ängsten, die wir streicheln wie schnurrende Katzen in unserem Schoß, die dann vielleicht kurz kratzen oder beißen, weil sie genug haben, oder die unliebsame Katzenhaare auf unserer Hose zurücklassen, die uns aber abgesehen davon nur selten großen Katzenjammer bescheren.
Katzen gibt es in Athen wie Sand am Meer. So wie Ängste im Äther.
Meine Angst kann ich nur schwerlich einer Kategorie zuordnen, manchmal wiegt sie schwer, mal nehme ich sie leicht und schicke mich selbst gegen sie in die Schlacht, zum Beispiel mit diesem Blog. Meine Angst (neben der Angst vor der Angst), ist die Angst davor, zu vergessen und vergessen zu werden. Und für ein paar Tage habe ich sie tatsächlich selbst vergessen, aber ganz plötzlich, im Angesicht von Marmorsäulen, antiken Markt- und Versammlungsplätzen, Theatern und 3000 Jahre alten Inschriften sind sie zurückgekehrt. Zwischen all den Steinen auf Agora und Akropolis, auf und neben denen wir Nachfahren der Wiege Europas spazieren, wirken wir mit unseren Smartphones so deplatziert wie Asterix und Obelix im Weltall.
Vom Zoon politikon zum Zoon digitalon? Streetart auf Athens Straßen.
Wie Zombies fotografieren wir die Steinhaufen und Grundmauern, die einst die Welt bedeutet haben, die Marmorplatten, auf denen Sokrates gewandelt ist, sein mutmaßliches Gefängnis, Tempelanlagen für Zeus und Hephaistos, die Motive sind endlos, das Verständnis dafür hingegen endlich: Was wissen wir schon? Selbst mit abgeschlossenem Lateinstudium ist die Zeit nicht zu ermessen, werden die Steine nicht lebendig, irren wir halb analog, halb digital umher (noch dazu bei den didaktisch durchaus dürftigen Deskriptionen der Denkmäler): Ich weiß, dass ich nichts weiß, soll wohl schon Sokrates gesagt haben, oîda ouk eidōs.
Erinnert an Platons Höhlengleichnis – Kunst in der Athener Metrostation
Die Angst vor dem Vergessen und davor, vergessen zu werden, hat natürlich einen griechischen Namen, Athazagoraphobie. Sie führt zum Beispiel, wie eben beschrieben, zur detaillierten Dokumentation (die Digitalisierung lässt grüßen!). Die andere Seite der Medaille, die des Vergessen-Werdens, ist für mich die Angst davor, im Leben der anderen keine Spuren zu hinterlassen – dass andere vergessen, was wir zusammen erlebt haben, gedacht und gemacht haben. Es ist, umringt von so viel geballter Menschheitsgeschichte in Athen, vielleicht auch ein klein wenig Angst davor, den großen Plan nicht zu erkennen, für das Universum unsagbar unbedeutend zu sein. Aber hauptsächlich und ganz generell ist die Angst bezogen auf meinen sozialen Mikrokosmos und das Netz, in dem wir, gewoben von den drei griechischen Schicksalsgöttinnen, zusammengehalten werden.
Begegnungen können flüchtig sein, ebenso wie Erinnerungen. Dromeas, Skulptur von Costas Varotsos
Dass die Angst oft unbegründet ist, hat sich mir erst am Wochenende offenbart, als mir Denis, der mich vor elf Jahren nachts durch Berlin chauffiert hat und den ich seitdem nur ein, zwei Mal gesehen habe, einen ramponierten Schlüsselanhänger mit seinem Namen unter die Nase hielt. Abgewetzt und mit Kabelbinder zusammengehalten, weil er ihn nicht von seinem Schlüsselbund lösen wollte. Er erinnerte sich ebenso wie ich an mein kleines Geschenk aus einer anderen Zeit, das ich ihm als Dankeschön zum Abschied gemacht hatte…
Bei diesem Stadt- und Gedankenspaziergang wollte ich keineswegs Eulen nach Athen, sondern den Ängsten Rechnung tragen (und mit ihnen abrechnen). Vielleicht hat das Gelesene ja, gemäß der aristotelischen Dichtungstheorie, phobos und eleos ausgelöst, Furcht und Mitleid, das zur Reinigung der Seele führt, zur katharsis. Wer nun noch ungerührt oder angstgeschüttelt am Katzentisch sitzen bleibt, sollte dringend die Dichterin Mascha Kaleko zu Rate ziehen, die kompromisslos auf Konfrontation setzt: “Jage die Ängste fort und die Ängste vor den Ängsten (…)” Ihr Patentrezept: “Sei klug und halte dich an Wunder.”
Streetart im Navarinou Park, Athener Studentenviertel Exarchia.
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache