„Sie tickt noch.“ Das rote Lederband um das Handgelenk. – „Ja, sie tickt noch.“ Das weiße Ziffernblatt, zwölf Zahlen sind ein Kreis. Zwei filigrane schwarze Zeiger. Komplizierte Zahnradbahnen im Verborgenen. Eine einfache Wahrheit an der Oberfläche. Sie tickt noch. Trotzdem, obwohl. Sie ticken alle noch: Am Armband, in der Schrankwand unter einer Glashaube, während goldene Kugeln darin abwechselnd nach links und rechts Pirouetten drehen, in der digitalen Wetterstation über dem blauen Telefon, in roter Plastik eingelassen auf dem Nachttisch, im Fernsehreceiver, an der Küchenwand über der Spüle, auf dem Regalbrett unterhalb des Arzneikastens, in der kleinen Stube umrahmt von fröhlichen Gesichtern, die einst vertraut waren, in der digitalen Anzeige des Fax-Geräts, auf dem schnurlosen Telefon, rot leuchtend im Radiowecker, in der schwarzen Ledertasche mit silbernen Gliedern, auf dem Küchenschrank, verwaist. Ja, sie sind noch intakt. Obwohl, trotzdem. Sie zeigen, wonach ich nicht frage. Sie verschweigen, was ich wissen will: Wie misst man ein Leben, woran merkt man, dass die Zeit reif ist, wie lange, bis die warme Hand in meiner für immer kalt wird, was passiert im Zwischenraum, wie leise ist Stillstand, wo beginnt die Ewigkeit, was kommt dann, was bleibt uns übrig, ticken wir noch ganz richtig. Ich weiß nicht, wie spät es ist. Nur, dass. Ich bleibe stehen. (Stehst du mir bei?)
Dozentin und Schreibtrainerin in Berlin
Wissenschaftliches und kreatives Schreiben, (Hochschul-)Didaktik
Deutsch als Fremdsprache