Oft dominiert ein Thema oder ein Gedanke unseren Alltag, je nachdem, wo gerade der Schuh drückt, und irgendetwas ist ja immer. Manchmal fühlt man sich so, als würde man immer wieder mit der Nase darauf gedrückt, auf diese eine Sache hin, die einen eh gerade beschäftigt. Vera F. Birkenbihl hat einmal in einem Video über den Effekt gesprochen, wenn man sich einen Wohnwagen kaufen möchte und ganz plötzlich überall nur noch Wohnwagen herumfahren sieht und Leute hört, die sich darüber unterhalten. Einfach nur, weil der eigene Fokus auf dieser Sache liegt, nimmt man bestimmte Themen viel stärker wahr – obwohl sie uns sonst auch immer umgeben. Mein heutiges Thema hat auch etwas mit Umgebung zu tun, und mit Wohnwagen, im entferntesten Sinne, denn dieses Gefährt widerspiegelt das Raum-Zeit-Kontinuum par excellence. Ich bin keine Mathematikerin, keine Physikerin, keine Philosophin, ich kann diesen Teil der Relativitätstheorie beim besten Willen nicht erfassen. Aber: der Wohnwagen ist das perfekte Symbol für die Bewegung durch und das Er-fahren von Raum und Zeit, Heimatgefühle inklusive, wie in einem Schneckenhaus oder Schildkrötenpanzer. Leider bin ich aber auch kein Camper und wenn ich gehe, dann ohne mein mobiles Heim, dafür aber mit Sack und Pack. So nehmen wenigstens meine (relativ) spärlich ausgewählten Besitztümer in der Fremde Raum ein und ich räume sie ein in verschiedene Regale und Schränke und mache mir Buch für Pullover für Zahnbürste für Foto seit geraumer Zeit verschiedene Räume in immer wieder neuen Wohnungen zu Eigen: Wohnräume, Denkräume, Spielräume, Herzkammern, Grenz- und Zwischenräume.
Um dem luftleeren Raum keinen Raum zu geben. Denn im Vakuum gibt’s keinen raumen Wind. Die bisherige Bilanz: neun Lebensräume in neuneinhalb Jahren. Und die nächsten Kisten und Koffer wollen bald schon wieder gepackt werden…
Doch mein Lustwandeln, Herumtreiben und geräumiges Wohnen ist ein Privileg, mein Kofferpacken ein Erste-Welt-Problem. Nicht zu vergleichen mit einem unfreiwilligen Ortswechsel, einer gezwungenen Migration, einer Flucht. Eine solche Flucht, die wir in Westeuropa meist nur durch Zahlen erfassen und nicht nachempfinden können, steht im Mittelpunkt des szenischen Films „Kinder des Lichts“ von Regisseur David Ruf. Der Film macht Schluss mit Abstraktion und führt die Grausamkeiten des Krieges nur allzu deutlich vor Augen – mit Kinderaugen. Fünf syrische Kinder versuchen, dem Krieg zu entfliehen. Sie sind alleine, haben nichts als einen kleinen Bollerwagen, ein paar Decken, eine Taschenlampe, drei Barbiepuppen, ein paar Medizinbücher und Medikamente, zwei Wachteleier, ein Gewehr und einen kleinen Stern aus Holz.
Dieser Stern, der symbolhafte Gegenstand der Protagonistin Raisa, steht stellvertretend für die Idee eines utopischen Ortes ohne Krieg und Gewalt, für das „Land des Lichts“. Es gab schon viele Dokumentationen und Talkshows über den Krieg in Syrien, der seit mittlerweile sieben Jahren andauert und nach Expertenschätzungen seither über 500.000 Leben gekostet hat und die Hälfte der syrischen Bevölkerung zu Flüchtlingen werden ließ. Was dieser Film anders macht: Er erzählt uns eine Geschichte – fiktiv zwar, aber auf realen Erlebnissen syrischer Flüchtlingskinder basierend. Und manchmal ist Fiktion zu mehr imstande als nackte Zahlen: Sie ermöglicht einen Einblick in eine andere Welt, fördert Empathie und bleibt im Kopf. So hallt der Film jetzt noch in mir nach, ich sehe Raisa, die sich in den geschützten Raum ihrer sorglosen Kindheit zurückwünscht, in der sie ihrem Vater beim Schnitzen zusah. Die den anderen Kindern mit ihrem Traum vom „Land des Lichts“ Hoffnung gibt. Die schließlich nach einer langen und gefährlichen Wanderung in einem zerstörten Raum in einer Baracke weint, als dieser Traum geplatzt zu sein scheint.
Und was geht uns das an? Was umgibt uns, womit umgeben wir uns, welche Schritte müssen gegangen werden, damit nichts zwischen uns steht? Die Frage ist: Wo hört Raisas (T)Raum auf und wo fängt unserer an. Wie kann aus dem Zwischenraum des Krieges, einem riesigen Wartezimmer (den Flüchtlingscamps und -unterkünften), in dem das Leben so vieler Menschen für ungewisse Zeit auf Pause steht, je wieder ein Lebensraum werden?
Ich hoffe sehr, dass der Film für die Zuschauer ein Türöffner ist, wenn er nicht schon offene Türen einrennt. Vielen Dank an SPEAK SYRIA, an David Ruf, Anke Klaaßen, David Steffen, an alle, die die Projektidee zum Film werden ließen! Auf dass „Kinder des Lichts“ Licht in die dunklen Ecken unserer eigenen privaten Bequemlichkeiten bringt. Auf dass der Funke der kindlichen Hoffnungsschimmer auf uns alle überspringt.
Links zum Weiterlesen:
Die Website zum Projekt, zu den Hintergründen, zum Crowdfunding
Die Beschreibung des Films auf Englisch von der Facebook-Seite zum Film
Inhaltsangabe von Arte, wo der Film schon ausgestrahlt wurde
Die Beschreibung des Films von der Filmdatenbank IMDb
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